Mehr als nur trockener Stoff
Vom 4. bis 8. August veranstaltete der Bund der Jugend der Deutschen Minderheit (BJDM) erstmals das Projekt „Wurzeln der Identität – auf den Spuren seiner Geschichte“. Die Jugendlichen nahmen dabei an einer Studienreise durch Deutschland teil.
Das Projekt „Wurzeln der Identität“ setzte sich mit der Geschichte Schlesiens und dem heutigen deutsch-polnischen Grenzgebiet auseinander. Anstatt den Jugendlichen die Geschichte nur in Form eines Vortrags oder als „trockenen Stoff“ im Unterricht zu vermitteln, wollte Projektkoordinator Michael Materlik vom BJDM einen anderen Weg gehen: „Wir haben uns nicht so sehr auf viele Zahlen und Daten konzentriert. Es waren eher interaktive Übungen, spannende Informationen, die im Geschichtsunterricht selten vermittelt werden. Außerdem wollten wir zeigen, dass auch ein Teil Schlesiens in Deutschland liegt. Der erste Stopp war das Schlesische Museum zu Görlitz, wo wir mehr über unsere eigene Geschichte und die Geschichte Schlesiens erfahren haben.“

Foto: BJDM
Bevor es jedoch nach Deutschland ging, begann die Studienreise in Oppeln mit einer Besichtigung des Archivs des Forschungszentrums der Deutschen in Polen, der Filmaufführung „Rote Pest“ im Dokumentations- und Ausstellungszentrum der Deutschen sowie einem Workshop mit Mitarbeitern des Staatsarchivs Oppeln – unter anderem zur Gotischen Schrift. „Das war sehr spannend, wir haben auch ausprobiert zu lesen und etwas zu schreiben“, erzählt die 16-jährige Ania Komandzik aus Klein Stein (Kamionek).
Die eigene Identität als Schatz
Wissenschaftlich begleitet wurde die gesamte Reise von Dr. Monika Czok von der Universität Oppeln, die auch die Workshops vorbereitet hatte. Sie sieht das Projekt vor allem als Möglichkeit der Identitätsfindung für die Jugendlichen: „Ich denke, junge Menschen sind noch dabei, ihre eigene Identität zu entwickeln. Das geschieht meistens anhand dessen, was Gleichaltrige oder die Medien sagen. Dabei sitzt das Wahre, das Wichtige oft längst im Herzen – bei den Vorfahren, bei den Menschen, die uns sehr nahe sind und uns von Kind an geprägt haben. Sich dessen bewusst zu werden und nachzuvollziehen, was meine Eltern, Großeltern und vorherigen Generationen geprägt hat, warum wir in dem Haus wohnen, in dem wir heute wohnen, und warum wir nicht weggezogen sind – das sind alles Elemente, die die eigene Identität prägen. Wichtig ist, das als einen Schatz zu sehen und nicht im Vergleich zu denken: ‚Ich habe nicht das, was die Medien zeigen.‘ Ich habe meine eigenen Werte. Wenn die jungen Menschen das auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben mitnehmen, kann das ihre Zukunft sehr positiv beeinflussen.“

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Begegnungen, die verbinden
Danach führte die Reise nach Deutschland – nach Görlitz, Bautzen, Dresden und in die Sächsische Schweiz. In Bautzen trafen die Teilnehmer zum Beispiel Vertreter der sorbischen Minderheit, in Dresden Mitglieder der Landsmannschaft Schlesien. Von ihnen erfuhren die Jugendlichen mehr über deren Traditionen und darüber, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg und der Vertreibung in ihrer neuen Heimat eingelebt haben. Auch die Geschichte der Stadt Görlitz und ihre Teilung in einen deutschen und einen polnischen Teil war Thema der Studienreise.

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„Ich wollte meine Deutschkenntnisse verbessern, außerdem interessiere ich mich für Architektur. Die Städte zu besichtigen war richtig toll. Ich habe vieles gelernt, zum Beispiel wusste ich vorher nichts über die sorbische Minderheit in Deutschland. Auch über die Europastadt Görlitz habe ich sehr viel erfahren“, erzählt die Studentin Agnes Anioł.
„Wir haben uns nicht so sehr auf viele Zahlen und Daten konzentriert. Es waren eher interaktive Übungen, spannende Informationen, die im Geschichtsunterricht selten vermittelt werden.“ – Michael Materlik
Die Jugendlichen trafen auch auf Jugendorganisationen vor Ort und kamen mit Gleichaltrigen ins Gespräch, die teilweise eine ganz andere Sicht auf die Welt hatten. Für Adrian Szatkiewicz aus Allenstein (Olsztyn) war diese Erfahrung besonders wichtig: „Wir müssen alle zusammenarbeiten – die Jugendlichen in ganz Europa, egal, welche politische Richtung wir vertreten.“

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Auch Mikołaj Kurowski aus Bielitz-Biala (Bielsko-Biała) nahm am Projekt teil. Er freut sich über die neuen Eindrücke, die er während der Reise sammeln konnte: „Wir hatten in dem Projekt Austausche mit anderen Minderheiten, und zwischendurch konnten wir die Städte besichtigen. Das war eine schöne Vielfalt an Erfahrungen.“
Wenn Grenzen die Heimat verändern
Man muss kein großer Historiker sein, um zu verstehen, sagt Dr. Monika Czok: „Wenn man sich vergegenwärtigt, dass Schlesien – plus/minus – alle zwei Jahrhunderte seine staatliche Zugehörigkeit änderte, bringt das schon viel. Das heißt: Unsere Vorfahren lebten als Familie in einer Ortschaft, aber in unterschiedlichen Generationen plötzlich in verschiedenen Staaten – obwohl der Ort derselbe war. Das hat große Konsequenzen für die Bewohner: Die Region bleibt, wie sie ist, muss sich aber den Einflüssen des jeweiligen Staates unterordnen. Das betrifft die Sprache, das Rechtssystem, die Kultur, die Religion – also fast alle Lebensbereiche verändern sich. Das hat natürlich Einfluss auf die Identität.“

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Die Suche im digitalen Zeitalter
Der große Boom der Identitätssuche sei inzwischen abgeflaut, meint die Wissenschaftlerin: „Die große Welle nach regionalen Inhalten gab es Anfang der 2000er Jahre. Alle wollten Schlesisch sprechen, schreiben, sich zur schlesischen Identität bekennen. Auch die Suche nach den deutschen Wurzeln und die Spurensuche in der Region waren sehr lebendig. Heute habe ich den Eindruck, dass es vielleicht etwas abgeebbt ist, obwohl es immer noch Menschen gibt, die sich dafür begeistern. Ich glaube auch, dass wir vieles dank der neuen Medien entdecken können. Die Suche ist jetzt viel leichter, oft auch digital möglich. Man kommt leicht an Quellen und Materialien, die früher nur als Originale zugänglich waren. Jetzt muss man nur den Willen haben, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen.“

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Die Teilnehmer des BJDM-Projektes haben durch die Workshops die entsprechenden Werkzeuge dafür in die Hand bekommen.