Vergessenes Erbe in Rokittnitz
Wer Hindenburg O.S. hört, denkt wahrscheinlich an Bergbau und Fußball. Dabei ist es auch eine Universitätsstadt mit einem charmanten Campus der Schlesischen Medizinischen Universität im Stadtteil Rokittnitz.
Bergknappschaft
Zu den wichtigsten Institutionen im oberschlesischen Industriegebiet gehörten einst die Bergknappschaften. Seit dem Mittelalter unterstützten sie – zunächst religiös motiviert – kranke Bergleute und deren Angehörige, um Notlagen zu verhindern. Denn die Arbeit unter Tage war damals wie heute mit besonderen gesundheitlichen Gefahren verbunden.
Die schnelle Entwicklung des Steinkohlebergbaus im 19. Jahrhundert und die Schwierigkeit, eine ausreichende medizinische Versorgung über bestehende Krankenhäuser sicherzustellen, veranlassten die Knappschaften dazu, eigene Krankenhäuser zu errichten.
Knappschaftskrankenhaus Rokittnitz
Die Entstehung des Krankenhauses in Rokittnitz ist eine indirekte Folge der politischen Entwicklungen in Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg. Die Knappschaft mit Sitz in Tarnowitz wurde 1922 – genauso wie die Region – in einen deutschen und einen polnischen Teil geteilt, wobei die Mehrheit der Mitglieder und Spitäler an Polen fiel. In den in Deutschland verbliebenen Krankenhäusern fehlte es infolgedessen an Betten, weshalb ein Neubau nötig wurde.
Für die neue Klinik wurde in der damals unabhängigen Gemeinde Rokittnitz ein Grundstück gegenüber dem 1904 fertiggestellten Kreisinvalidenheim erworben. Der Standort hatte den Vorteil, dass er in einem bewaldeten Gebiet und nahe einer wichtigen Verkehrsachse lag.
Eingang mit Bibliothek.Foto: Martin Wycisk
Moderne Gesundheitsversorgung
Das neue Krankenhaus wurde im Juli 1928 fertiggestellt. Es bestand aus mehreren schlichten, zweckmäßigen Bauten, die gemeinsam einen großen Innenhof umfassten. Die neue Klinik mit 360 Betten war mit damals modernster Technik ausgestattet. Dazu gehörten u. a. zwei Operationsräume, Röntgengeräte sowie Säle für Lichtbehandlungen und Diathermie.
Für die Verpflegung der Patienten sorgte eine Großküche. Diese war mit allen Gebäuden unterirdisch verbunden, sodass im Winter die Mahlzeiten warm zu den Kranken kamen. Die Heizung und die Versorgung des Krankenhauses mit Warmwasser wurden durch mehrere Kokskessel sichergestellt. Zum Komplex gehörten auch eine Apotheke sowie ein Schwesternhaus, in dem 36 Krankenschwestern wohnten.
Ausgangspunkt für die Medizinische Universität
Neben den materiellen Zerstörungen war Polen nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Verlust vieler Fachkräfte konfrontiert. Schätzungen zufolge überlebten 39 % der polnischen Ärzte den Krieg nicht.
So wundert es nicht, dass sich im April 1946 das Organisationskomitee der „Schlesischen Medizinischen Akademie“ gründete. Von Anfang an sollte die Akademie ihren Sitz in Rokittnitz haben. Der genaue Grund hierfür ist nicht überliefert, aber die moderne Infrastruktur und die gute Lage im Waldgebiet waren wahrscheinlich entscheidende Argumente.
Das ehemalige Knappschaftskrankenhaus in Rokittnitz wurde zum Ausgangspunkt der medizinischen Ausbildung in Oberschlesien.
Zu Beginn wurde eine Verlegung der Polnischen Medizinfakultät der Universität Edinburgh diskutiert, die im Krieg Militärärzte für die Polnischen Streitkräfte im Westen ausbildete. Dadurch hätte die neue Hochschule schnell Fachkräfte gewinnen können, doch der sich anbahnende Stalinismus in Polen verhinderte dies.
Letztendlich entschied das Komitee, auf in Polen wohnhafte Ärzte zurückzugreifen.
Die Gründung der „Ärztlichen Akademie in Beuthen“ am 22. April 1948 leitete für Rokittnitz eine neue Epoche ein. Denn trotz des Namens war der Hauptsitz das ehemalige Knappschaftskrankenhaus.
Ehemaliges Kreisinvalidenheim in Rokittnitz.Foto: Martin Wycisk
Die ersten Jahre waren von viel Improvisation geprägt, in denen die Rokittnitzer Studenten viel reisen mussten. Viele Teile der praktischen Ausbildung fanden in Kliniken in Beuthen und Hindenburg O.S. sowie später in Tarnowitz, Lublinitz und Kattowitz statt. Das konnte kein Dauerzustand sein, weshalb der Bau eines Universitätscampus samt Klinik in Hindenburg O.S. und später in Beuthen geplant war.
In der Not der Nachkriegsjahre fehlten jedoch die Mittel für eine solche Großinvestition. Letztendlich fiel Ende der 1950er Jahre die Entscheidung, dass der Campus im Kattowitzer Stadtteil Ligota (Ellgoth) entstehen sollte. Bis 1964 blieb aber Rokittnitz der Sitz des Rektors.
Gegenwart und Zukunft
Heute bildet hier die Schlesische Medizinische Universität – wie die Hochschule nun heißt – weiterhin Mediziner aus. In Rokittnitz befinden sich u. a. die Lehrstühle für Pharmakologie, ein Teil der Universitätsbibliothek und ein Studentenwohnheim.
Aktuell wird der Campus im Rahmen eines europäischen Förderprojektes im Wert von 116 Millionen PLN ausgebaut. Neben einem neuen Gebäude mit einem Hörsaal für 350 Personen wird auch das ehemalige Kreisinvalidenheim saniert. Hier entsteht ein Zentrum für Innovative Medizindidaktik.
Zukünftige Studenten werden hier in realitätsnahen Operationssälen und einer Notaufnahme ihr Metier lernen. Als Teil des Projekts ist außerdem ein Zentrum für neue Technologien geplant, wo mit 3D-Druckern und virtueller Realität neue Heilmethoden erforscht werden sollen.
Modernste Medizin ist in Rokittnitz also nicht nur Geschichte, sondern auch Gegenwart und Zukunft.









